Das Auge wird begehbar

Der Mikrokosmos wird zum Makrokosmos, der Augapfel zum Planeten. Mit seiner Erfindung revolutioniert Prof. Dr. med. Heinrich Gerding die Chirurgie des Auges.

 

Es ist ein Quantensprung in der Medizintechnik. Wer einmal so plastisch operiert hat, will nicht mehr zurück. Der Chirurg sieht Details, die er vorher nicht einmal erahnen konnte. Grosse Strukturen statt hauchdünner Abstände. Klare Konturen statt verschwommene Ränder. Wie auf einer Mondlandschaft kann er sich über die Netzhaut bewegen. Und das alles mit blossem Auge – dank einem genialen Gerät.

Erfinder dieses Gerätes ist Prof. Dr. med. Heinrich Gerding von den Pallas Kliniken. «Bereits 2001 habe ich mit der Entwicklung begonnen und bald darauf einen klinisch nutzbaren Prototypen gebaut», sagt der Chefarzt. «Nur auf der Suche nach einem Industriepartner bin ich nicht so recht weitergekommen. Erst einige Jahre später hat sich ein namhafter Hersteller für meine Entwicklung interessiert, doch nach der verabredeten Zusammenarbeit trat Funkstille ein. Dass nun ein anderer Chirurg mit meiner Erfindung medienwirksam aufgetreten ist, kann meine Freude an der erfolgreichen Umsetzung der Idee kaum schmälern. Als Arzt und Forscher liegt mir daran, Erfindungen wie diese für die Medizin und für alle Patienten verfügbar zu machen.»

Wie ist er auf die Idee gekommen? «Weil die Netzhaut sehr empfindlich ist, brauchte ich für die Entwicklung von Netzhautimplantaten ein System, das mit minimalem Licht auskommt. Schon die Leuchtkraft des herkömmlichen Operationsmikroskops kann bei längerer Einwirkzeit für die Netzhaut schädlich sein, besonders, wenn sie von kurzwelligem blauem Licht getroffen wird. Andererseits wünschte ich mir ein Gerät, mit dem ich die Strukturen im Auge so stark vergrössern kann, dass ich auf kleinstem Raum viel mehr sehe als mit dem Mikroskop.»

Der Professor begann zu tüfteln, folgte einem neuen Ansatz und entwickelte eine Apparatur, die mit zwei Kameras, einem schnellen Computer und einem neuentwickelten Bildschirm ein dreidimensionales Bild erzeugt. Ein Bild, das sich wegen seiner hohen Auflösung extrem vergrössern lässt. Nun war es möglich, auf einem Monitor jedes Detail zu zeigen und aus allen Richtungen zu betrachten. Nicht nur der Operateur profitiert. Das ganze Operationsteam sieht, was der Chirurg gerade macht und was die nächsten Schritte sind. Das hat viele Vorteile. Prof. Gerding: «Die Atmosphäre im Operationssaal ist entspannter. Die OP-Schwester erkennt schon im Voraus, welches Instrument sie mir als nächstes reichen muss. Alles läuft harmonischer, fliessender und ruhiger ab. Das spürt auch der Patient. Und er profitiert bei der Heilung, weil das System weit weniger Licht benötigt.»

Der Chefarzt schwärmt: «Ich betrete mit diesem System die Oberfläche eines neuen Planeten. Das Auge erscheint wie der Mond beim Blick durch ein Teleskop. Wenn ich von einer delikaten Zone einen Sicherheitsabstand einhalten muss, sehe ich sehr präzis, wie weit ich tatsächlich davon weg bin. Zum Beispiel bei Eingriffen der Katarakt- und Glaukom-Chirurgie. Heikel ist hier vor allem die Arbeit in der nur drei Millimeter tiefen Vorderkammer des Auges. Die Hornhaut darf auf keinen Fall berührt werden. Mit dem neuen Gerät sind wir noch präziser und schonender. Bei einer Linsenoperation sehe ich erstmals ganz genau, wie die Trübungen verteilt sind. Ich erkenne sogar, ob einzelne Zellen noch an der Linsenkapsel haften. Bisher war dieses Feld ein halbwegs komprimiertes ‹Etwas› mit ein wenig Tiefe. Demgegenüber fällt es mir in der Netzhaut-Chirurgie mit dem neuen Gerät viel leichter, an der nur ein zweitausendstel Millimeter dünnen Innenschicht die Membran, die das Sehen stört, zielgenau von der Netzhaut zu lösen.»

Und noch einen Vorteil listet Prof. Gerding auf: «85 Prozent aller Netzhaut-Chirurgen haben Nacken- und Rückenprobleme, weil sie den ganzen Tag gebeugt über dem Mikroskop sitzen. Damit ist nun Schluss. Ich operiere seit 2017 mit dem neuen System. Abends komme ich deutlich weniger angestrengt aus dem OP heraus und bin im Rücken entspannter als je zuvor. Mit diesem System erwacht eine Art von neuer Freude an der Chirurgie.»

Autor
Pallas Kliniken
Publiziert am
21.02.2019
Kategorie
Aktuell
Tags
Olten
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